Nie wieder RIAS? Eine Presseschau zur 1985er Kündigung

Nie wieder RIAS? Eine Presseschau zur 1985er Kündigung

In der interessanten Magisterarbeit von Marcel Müller „Die kurze Ära der Jugendwelle RIAS 2“ taucht der Name Barry Graves nicht auf. Man erhält aber einen guten Eindruck davon, wie es 1985 im RIAS-Funkhaus gekracht hat. Ende des Startjahres von rias2 hatte Barry Graves jedenfalls den Machtkampf mit den alten und neuen RIAS-Chefs verloren, er war raus aus den Programmen, die er 17 Jahre lang mitprägte. Er gab sich aber selbst Anfang 1986 noch nicht geschlagen, sondern rührte in eigener Sache fleißig die Pressetrommel.

Keine Ahnung, wie es ihm gelang, in der taz eine „Presseerklärung […] zu den Vorfällen im RIAS“ zu platzieren. Dafür, dass der Text im digitalen taz-Archiv nicht zu finden ist, könnte es zwei Erklärungen geben: Die scharf Gescholtenen fanden das gar nicht lustig oder der taz-Redaktion ging nachträglich ein Licht auf, dass wenn sie diese Art Meinungsäußerung erlaubten, die Zeitung bald von Statements unfair Behandelter überquellen würde. Aber hier kann man sich jetzt selbst ein Bild machen:

NIE WIEDER RIAS?

Presseerklärung von Barry Graves zu den Vorfällen im RIAS

Der RIAS hat mir zum Heiligabend nach 17 Jahren erfolgreicher Tätigkeit als Autor und Moderator die fristlose Kündigung zustellen lassen. Als Grund geben Programmdirektor Professor Herbert Kundler und Verwaltungsdirektor Christian Wagner meine geplante freie Mitarbeit „in erheblichem Umfang und an herausgehobener Stelle“ bei dem neuen Kabelsender „Radio B-1“ an, der am 19.1.86 sein reguläres Programm aufnehmen wird.
Durch ihre Aktion erwecken die beiden Herren in der Öffentlichkeit den rufschädigenden Eindruck, ich habe mich gegenüber dem RIAS illegal oder zumindest illoyal verhalten. Prof Kundler verstieg sich sogar gegenüber der Presse zu der vorsätzlich unwahren Behauptung, meine Annahme einer Zusatztätigkeit als freier Journalist sei eine „gezielte Provokation“ gewesen. Obendrein behauptete Prof Kundler gegenüber dem „Volksblatt Berlin“, es sei meine freie Entscheidung, für den RIAS oder B-1 zu arbeiten. „Wir setzen ihm dabei nicht die Pistole auf die Brust.“ In Wahrheit hat mich der Sender vor keine, gar keine Alternative gestellt, weil die leitenden Herren überhaupt kein Gespräch mit mir führen wollten. Sie haben, ohne mich vorher zu benachrichtigen, meine Sendungen unter anderen Mitarbeitern verteilt und erst danach mir die fristlose Kündigung zugestellt.
Tatsache ist, daß ich bei „Radio B-1“ weder „erheblich“ noch „herausgehoben“ arbeiten werde und daß meine dortigen Sendungen weder vom Titel noch vom Thema oder Machart her mit irgendeinem meiner gegenwärtigen RIAS-Programme identisch sind. RIAS sendet nach eigenem Selbstverständnis für die DDR, dort aber ist der Kabelsender „Radio B-1“ nicht zu empfangen. Mein gegenwärtiger Status als freier Mitarbeiter des RIAS gestattet es mir zudem, jedwede zusätzliche Beschäftigung anzunehmen.
Gegenüber der Presse porträtierte mich Prof. Kundler als einen freien Mitarbeiter, der „in hohem Maße das Image des RIAS prägt“. Die Art und Weise, wie meine Präsenz auf den RIAS-Wellen in den letzten Monaten ausgehöhlt worden ist, und der unwürdige Stil einer fristlosen Kündigung ohne den Versuch einer vorherigen Rück- oder Aussprache lassen Zweifel an der Seriosität einer solchen Behauptung aufkommen.
Wahr ist jedoch ,daß meine Programme gerade bei der DDR-Jugend eine beachtliche Resonanz finden und dem RIAS seit nahezu zwei Jahrzehnten in seinem eigentlichen Sendebereich ungemein nützlich sind. Die Beliebtheit mancher Sendungen auch bei Westberliner und westdeutschen Hörern gibt meiner journalistischen Arbeit eine Bindeglied-Funktion zwischen Ost und West und damit durchaus einen (kultur)-politisch bedeutsamen Charakter.
Wenn „der RIAS“ trotz dieser Imageprägung nun Hals über Kopf glaubt, den DDR-Hörern meine Sendungen fortan vorenthalten zu können, mögen nicht nur Eingeweihte darin lediglich persönliche Motive einiger leitender Herren sehen.
Denen kommt der Status-Vorteil des US-Senders RIAS in meinem Fall sicherlich sehr gelegen: arbeitsrechtliche Einwendungen gegen Aktionen des Senders hängen nämlich von dem Plazet der alliierten Kommandantur ab, und das kann manchmal bis zu sechs Monate auf sich warten lassen. Genau wie ich sind nur wenige Arbeitnehmer des RIAS darüber aufgeklärt worden, daß wir im Zweifelsfalle arbeitsrechtlich völlig ungeschützt sind.
Es mag verwunderlich erscheinen, daß ich nach wie vor meine im November erhobene Klage auf Festanstellung im RIAS aufrechterhalte. Der Grund: RIAS gehört nicht einigen wenigen Leuten in führender Stellung. Der Sender „gehört“ genauso gut mir nach 17 Jahren engagierter Bemühungen, den Hörern in der DDR amerikanische (Musik- )Kultur und Lebensart zu vermitteln. Diesen Hörern, die durch Anrufe und Briefe von drüben oder durch persönliche Gespräche nach ihrer Übersiedlung ihre Zustimmung zu meiner Arbeit erkennen ließen, fühle ich mich nach wie vor verpflichtet.

QUELLE: taz, 13.1.1986, S. 18

Presseerklärung 1986 von Barry Graves in der taz

Am 16. Januar 1986 war Barry Graves sogar in der Berliner Abendschau des Sender Freies Berlin zu sehen. Der gut 1-minütige Beitrag von Christian Walther widmete sich dem kurz bevorstehenden Start von Radio B-1. Barry Graves erklärte auch darin: „Man hat mir ja zum Heiligabend die Kündigung zugeschickt – die fristlose Kündigung. Und nun müssen die Gerichte sehen, wie sie damit fertig werden.“

Über den Verlauf und Ausgang der angekündigten Rechtsschritte von Barry Graves ist nichts bekannt. Wäre es zu einem Prozess gekommen, hätte man davon vermutlich gehört. Wahrscheinlicher ist, dass es eine außergerichtliche Einigung gab – sprich eine Abfindung. Möglich wäre ansonsten, dass Barry Graves einsah, juristisch keine Chance zu haben und irgendwann aufgab. In einem Interview mit der Zeitschrift Blickpunkt legte er jedenfalls nochmal nach und gewährte gleichzeitig einen Einblick in seine Zukunftspläne:

Zur Sache

RIAS 2 – darauf kann jeder kommen

Barry Graves, 39, gefragter Autor und langjähriger RIAS-Moderator, hat Ärger mit dem „Rundfunk im amerikanischen Sektor“, vor allem wegen seines Engagements für den privaten Sender B 1. Wir sprachen mit ihm über RIAS 2, Kabelrundfunk und seine Zukunftspläne.

Du willst auf gerichtlichem Wege erreichen, wieder für den RIAS arbeiten zu können. Warum willst du unbedingt für einen Sender arbeiten, der dich gerade rausgeworfen hat?
In der täglichen Arbeit habe ich ja mit den Leuten, die gegen mich sind, relativ wenig zu tun. Da tritt also keine ständige seelische Belastung ein. Außerdem glaube ich, daß ich immer noch einen Platz im Programm von RIAS 2 habe. Es gibt ja immer noch Hörer, die meine Arbeit schätzen. Gerade im letzten Jahr ist meine Präsenz auf den Wellen und meine Akzeptanz bei den Hörern — vor allem in der DDR — weiter gestiegen. Das merkt man an der Post, an Anrufen und Reaktionen vieler Leute. Außerdem glaube ich, nach 17 Jahren Arbeit im RIAS einen Anspruch zu haben, dort zu arbeiten, weil mein Engagement immer weit über das hinausging, was gerade mal bezahlt wurde.

Das neue RIAS-2-Programm kommt ja sehr gut an. Worauf führst du diesen Erfolg zurück?
Ganz simpel darauf, daß eine Menge Pop-Musik läuft. Bloß, auf dieses Rezept kann natürlich jeder kommen. Man muß sich nur umhören, was junge Leute wann hören möchten. Aber das ist ja noch keine journalistische Arbeit — das ist reine Organisationssache. Diese Pläne gab es schon früher im RIAS, uns hat nur niemand den Weg so freigeschaufelt, sonst hätten wir das Programm genauso gut machen können. Vielleicht einige Dinge sogar qualitativ besser — vor allem im journalistischen Bereich.

Heißt das denn für die Zukunft des Hörfunks, daß nur noch ein aus Musik und leichter Unterhaltung zusammengesetztes Programm bestehen kann, daß anspruchsvolles Radio bei den Hörern keine Chance mehr hat?
Das fände ich entsetzlich, und ich glaube es auch nicht. Zum Beispiel das amerikanische Radio, was ja von vielen Sendern imitiert wird, ist dermaßen steril, langweilig und einfältig. Es ist zwar eine Musikberieselungsmaschine, aber das hat doch längst nichts damit zu tun, was Radio eigentlich leisten kann. Da sind z. B. nach wie vor Hörspiele oder auch Features. Denk mal an irgendeinen aktuellen Popmusiktrend, z. B. die Go-Go-Szene in Washington, da kannst du doch im Radio gleich eine Art Hörspielmontage drüber machen. Bis da im Fernsehen ein Film drüber gedreht ist, vergehen doch Ewigkeiten und tausend Etatberatungen. Ein Radiosender kann spontan auf Szenen, Milieuveränderungen oder neue Stars mit angemessenen akustischen Mitteln reagieren. Da gibt es so viele Möglichkeiten, die die einfallslosen Pop-Sender überhaupt nicht nutzen.

Du arbeitest jetzt für Radio B 1, einen privaten Kabelsender. Was reizt dich daran?
Radio B 1 versucht genau das entgegengesetzte Konzept von RIAS 2. Es sollen Hörer angesprochen werden, die wissen, daß sie hier in Europa leben. Also in einem Kulturbereich, der nicht nur darin besteht, daß er amerikanischen, Trends nachäfft. Es gibt im populären Bereich, wie in der Mode, in der Literatur, im Film usw. durchaus eine Menge kreativer und eigenständiger Dinge, und darum wird Radio B 1 eine europäische Sprache sprechen. Wir werden wahrscheinlich als einer der ersten Rundfunksender eine Sendung über die neue Kulturmetropole Madrid machen und auch in der Musik darauf achten, daß qualitativ akzeptable deutsche und europäische Popmusik stark präsentiert ist. Die Diskjockeys sind gefordert, ihre Personality zu entwickeln. Also, Radio von irgendwelchen Plattendudlern anonymer Herkunft, die auch anonym bleiben sollen, wird es nicht geben.

Glaubst du, daß private Hörfunksender zu einer echten Konkurrenz für den SFB und den RIAS werden können?
Nein, ich kann mir für B 1 sogar eine Kooperation mit dem SFB vorstellen. Mit dem RIAS momentan insofern nicht, weil er sich pauschal gegen Radio B 1 gestellt hat.

Und wie sehen deine Zukunftspläne aus?
Ich arbeite zur Zeit an einem Fernsehfilm für das ZDF mit Brigitte Mira und habe einen 3-Jahres-Vertrag mit der Filmproduzentin Regina Ziegler, für die ich mit dem Kollegen Waldemar Overkämping verschiedene Projekte entwickele – u. a. auch eine internationale Fernsehserie. Das ist ein Standbein, auf das ich mich in Zukunft stützen kann. Der Rundfunkbereich ein anderes, aber genausogut auch nach wie vor das Schreiben. Insofern wüßte ich jetzt gar nicht, was ist Standbein, was ist Spielbein. Und das ist auch mein Glücksfall, daß der RIAS – nach dieser völlig rechtlosen Kündigung – mich nicht, wie er sich das wahrscheinlich erhofft hat, finanziell auf die Straße setzen konnte.

INTERVIEW: Thomas Diekmann | QUELLE: Blickpunkt – Das Jugend-Journal, Februar 1986, S. 6

Interview mit Barry Graves in "Blickpunkt" 1986

Den Fernsehfilm mit Brigitte Mira gab es dann wirklich, vom Projekt einer internationalen Fernsehserie war nichts mehr zu hören. Das Kapitel mit „Radio B-1“ blieb jedenfalls von kurzer Dauer und ging als skurrile Fußnote in die Berliner Mediengeschichte ein.

Besonderen Anteil an den Auseinandersetzungen im RIAS nahm Stefan Woll in der Berliner Lokalzeitung Volksblatt Berlin. In ihr erschienen in kurzem Abstand mehrere Artikel, anhand derer man sich eine bessere Vorstellung von den Geschehnissen machen kann.

Das "Volksblatt Berlin" über den Graves-Konflikt im RIAS 1985

Einen interessanten Nachschlag lieferte ein Interview im Fachmagazin neue medien, das im Rahmen eines Berichtes („Flashs aus dem Freischwinger. Der neue Berliner Kabelsender B1 ist mittlerweile Stadtgespräch. Dank des RIAS“) über Radio B1 erschien. Barry Graves erklärt in diesem Interview auch erstmals, dass er dort nur ein normaler freier Mitarbeiter sei, also keine Leitungsposition inne habe.

Interview mit Barry Graves in "neue medien" 1986

Von den Protagonisten der Gegenseite sind die meisten verstorben, zuletzt im September 2023 Intendant Peter Schiwy. Seinen langjährigen Förderer Herbert Kundler „grüßte“ Barry Graves Ende 1986 (wiederum in der taz) in seinen „Ätherbegegnungen der unheimlich seichten Art“ als „inzwischen abgehalftert“. Und bezüglich Programmchef Gerhard Besserer (über dem man im SPIEGEL 32/1999 wenig freundliches lesen konnte) nahm sich Barry Graves 1992 in der Talkshow des Fernsehsenders FAB übers Berliner Jugendradio die Chuzpe heraus, für seine Spitze gegen den Dudelfunkausroller den ebenfalls im Diskutantenkreis sitzenden Andreas Dorfmann als Kronzeugen aufzurufen.

Bleibt hier zum Abschluss nur noch das Fragezeichen in der Überschrift der taz-Presseerklärung zu klären: Es wurde schließlich knapp für „Nie wieder“. Tatsächlich kam Barry Graves 1993 in den letzten Monaten des RIAS dort nochmal auf den Sender. Für die Reihe „Nachtradio: Extrasound“ produzierte er Features über Tom Waits, Memphis, Madonna und den Cyberspace. Am 31. Dezember 1993 um 23:55 Uhr verstummte der „Rundfunk im amerikanischen Sektor“ schließlich für immer (Quelle: Wikipedia). Sein geschasster Mitarbeiter sollte noch gut acht Monate leben.

Coda: Marcel Müller verkauft über die gängigen Online-Buchshops seine RIAS-Arbeit weiterhin für fast 50€ (das E-Book für 36,99€). Was aus ihm wurde und dass er jemals noch etwas zum Thema Radio und seinen Machern publiziert hätte, ist mit einer Internetsuche nicht zu ermitteln. Also perfekt passend zum Mythos Barry Graves…