The Day The Radio Died: Der Kahlschlag des Axel Svehla

Es liest sich in den Nachrufen auf Barry Graves fast etwas nebensächlich, aber hinter der „Banalisierung des Rundfunks“ (DER SPIEGEL) sowie der „Verflachung und Entwortung der Radiokultur“ (SZ) standen Menschen, die das Macht ihrer Positionen knallhart und unbarmherzig durchgesetzt haben. Denen Traditionen und die Berufsehre der betroffenen Radiomacher vermutlich ziemlich egal waren. Barry Graves war 1993/1994 einer der Leidtragenden. Im Tagesspiegel-Nachruf stand über ihn zu lesen, dass er sich als Rundfunkmoderator „auf verlorenem Posten“ fand:

„Die anspruchsvolle Radiokultur wurde dem pflegeleichten Computerprogramm übergeben. Um sich diesem Wandel entgegenzustemmen, fehlte ihm zuletzt nicht nur die Kraft, sondern auch die Zeit…“

Der Radiosender, auf den sich diese Beschreibungen beziehen: Radio B2, das frühere SFB2. Der Sender Freies Berlin hatte das „Kunststück“ fertiggebracht, den vor der Wende beliebten und angesehenen Sender in eine Quotenkrise zu navigieren. Statt wieder konsequent auf Anspruch und Qualität zu setzen, holte man einen „ehemaligen FFN-Mitarbeiter“ (Berliner Zeitung) als Nachfolger der glücklosen Barbara Wesel. Die B2-„Befehlskette“ sah Ende 1993 also wie folgt aus:

Letzterer, laut Wolfgang Doebelings Erinnerungen von 2020, ein „Apologet des Dudelfunks“, startete nun eine „toxische Radikalkur“, um sein „Ideal unbedingter Durchhörbarkeit“ im Berliner Äther durchzudrücken.

Eines der ersten Opfer war die legendäre Kinosendung von Reiner Veit, Ende Dezember 1993 ging auch „Downtown – mit Barry Graves“ zum letzten Mal über den Sender. Der samstägliche Abend-Sendeplatz wurde mit der „B2 Party“ gefüllt. Um die Demütigung komplett zu machen, durfte Barry Graves weiter am Mikrofon bleiben. Er musste also auf seinem alten Sendeplatz gute Miene zum bitterbösen Spiel machen.

Zum Showdown kam es dann im April 1994. Axel Svehla hatte scheinbar beschlossen, zum Mai jeder musikjournalistisch gestalteten Sendung den Garaus zu bereiten. In seinem Fadenkreuz dabei: die spätabendlichen Musik-Specials – mittlerweile laufend unter dem Obertitel B2 Nachtclub. Wie absurd dieses Vorhaben war, machen bereits die bekannten Namen der Moderatoren deutlich: Barry Graves, Christine Heise, Helmut Heimann, Andreas Vick, Wolfgang Doebeling.

Svehla ahnte womöglich, dass er zu weit ginge, wenn er alle komplett schassen würde. Also bot er ihnen an, weiterhin am Mikrofon sitzen zu können, dann aber eben die vom Computer erstellten Playlists anzusagen.

Für Barry Graves muss das alles wie ein groteskes Déjà-vu dahergekommen sein. Bereits 1985 wurde er von Svehlas Brüdern im Geiste aus dem RIAS gegrault, nun ging das ganze beim SFB wieder los. Aus heutiger Sicht ist es müßig darüber nachzudenken, welche Chancen eine offene Rebellion gegen Svehlas Pläne gehabt hätte. Barry Graves hatte augenscheinlich nicht die Kraft, das vergiftete Angebot auszuschlagen. Die Erinnerung an seine B2-Sendungen ab Mai macht jedenfalls viele seiner Hörer noch immer traurig.

Diese finsteren Tage der Berliner Radiogeschichte jähren sich in diesem Jahr zum 30. Mal. Anlass hier, das Presseecho von damals zu dokumentieren. Große Wellen schlug der Artikel „Der Tod eines Genres“ von Andreas Becker in der taz. Der gesamte Text ist im Online-Archiv der taz („tod eines genres“ in das Suchfeld eingeben) nachlesbar.

Bericht in der Tageszeitung taz zu den Plänen der Radio B2-Führung.

Im Stadtmagazin tip schrieb sich Harald Asel seinen Ärger von der Seele:

Jäger des verlorenen Schatzes

Der Sender Freies Berlin entwickelt sich mehr und mehr zu einem der gefürchteten Schwarzen Löcher, in denen alle Materie auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Im Bemühen, das Programm von B2 („Besser informiert und einfach gute Musik“) noch stromlinienförmiger zu machen, wird der Nachtclub ab Mai gestrichen. Dazu gehören „Body and Soul“ mit Andreas Vick, „Roots“ mit Wolfgang Doebeling und weitere Sendungen mit speziellen Musikfarben. Diese würden die Hörer irritieren, tönt es aus der Masurenallee. Denn zwischen 22 und 24 Uhr werden die Radiowecker für den nächsten Morgen gestellt, und wer mit Phil Collins und Tina Turner geweckt werden will, der muß diese Musik auch am Vorabend hören können.

Das Radioweckerargument ist bei weitem das Kreativste, was dem SFB in Punkto Programmreform eingefallen ist. Die in den Keller rasenden Einschaltquoten von B2 (jetzt unter vier Prozent) sind kaum von den Sendungen am Abend verursacht. Seit Axel Svehla im Herbst ’93 Wellenchef wurde, bereiteten ihm aber genau diese letzten Nischen des Musikjournalismus Bauchschmerzen. Der Jäger der verlorenen Quoten setzt die falsche öffentlich-rechtliche Strategie gegen die private Konkurrenz konsequent fort: Anbiederung statt Auseinandersetzung. Wer dem Hörer immer nur nachrennt, sieht aber auf Dauer nur dessen Arsch. Und nach zehn Jahren Privatfunk sinken auch die Hörererwartungen. Die es sich leisten können, holen sich ihre Infos anderswo; der Rest wird zugemüllt, damit er nicht zum Denken kommt.

Die neunziger Jahre sind mit zerstörten Radioträumen gepflastert: Radio 100, DT 64, Radio 4U und Rockradio B. Und jetzt trifft es selbst mainstreamige Oldiesendungen wie „Rock’n‘ Roll Radio“ mit Barry Graves, der vor zwei Jahren mit seiner Ostkollegenschelte noch glaubte, qualifizierte Arbeitsplätze zu retten. Vor kurzem hat das Bundesverfassungsgericht den Rundfunkgebühren eine Bestandsgarantie gegeben. Dafür müssen die öffentlich-rechtlichen Sender die Grundversorgung mit Information leisten. Musik gehört anscheinend nicht dazu. Wäre es nicht besser, der SFB löste B2 auf und machte nichts Neues?

QUELLE: tip 6/1994, S. 158-159

Auch das andere Berliner Stadtmagazin, die zitty, widmete sich der geplanten „Auslöschung“ einer großen SFB-Tradition. Zuerst in Heft 6/1994 mit einem Kommentar von Johannes Waechter.

Reservat mit Zugangsbeschränkung

Zum Ende des Nachtclubs auf B2

Wenn eine Radiowelle ein paar Sendungen einstellt und ein paar engagierte Moderatoren entläßt, so ist das normalerweise nicht mehr besonders aufsehenerregend — das Lied von der Verflachung des Radios muß ja seit einigen Jahren so ausdauernd gesungen werden, daß es mittlerweile zum Gassenhauer geworden ist. Wenn die Radiowelle jedoch B2 heißt und es sich bei den zum 1. Mai geschaßten Moderatoren um Christine Heise, Barry Graves, Helmut Heimann, Andreas Vick und Wolfgang Doebeling handelt, sieht die Sache anders aus. Ihr Rauswurf ist ein Schlüsselereignis, mit dem eine journalistische Tradition zu Ende geht, die das Berliner Musikleben jahrelang geprägt hat.

Kein Zweifel, mit der Kaltstellung von Heise & Co. schließt (SF)B2 das Kapitel „s-f-beat und die Folgen“ endgültig ab. Die Mischung aus popkultureller Kompetenz und persönlichem Engagement, die den legendären „beat“ genauso kennzeichnete wie später Radio 4 U und zuletzt den Nachtclub, ist im Haus des Rundfunks nicht mehr gefragt. Kurzfristig wird dieses Ereignis die Berliner Musikszene nicht übermäßig durchschütteln. Sieht man diese Entlassung jedoch vor dem Hintergrund eines Musikmarktes, zu dem der Zugang in den letzten Jahren immer drastischer kommerziell reglementiert wurde, so verheißt das Ende des Nachtclubs eine düstere Zukunft: wenn es so weitergeht, wird der Musikszene, wie wir sie kennen, über kurz oder lang der Nachwuchs ausgehen.

Bei CD-Preisen von 35, Konzertpreisen von 40 bis 50 Mark und einer völlig unübersichtlichen Flut von Veröffentlichungen ist es für Neueinsteiger heute praktisch unmöglich, sich ohne Orientierungshilfe im Dschungel der musikalischen Geschehnisse zurechtzufinden. Als akustisches Medium war das Radio prädestiniert, solch eine Orientierung anzubieten.

Mit dem Ende des ernsthaften musikorientierten Radiojournalismus im Berliner Raum wird es dies jetzt jedoch nicht mehr tun. Als Ersatz steht neben der Young-Collections-Werbung nur MTV bereit, mittlerweile das Paradebeispiel für audiovisuelle Reizüberflutung: dort wird nur das wahrgenommen, was knallt (Techno, Metal, HipHop), leisere, schwierigere und ältere Stile fallen unter den Tisch.

Bei der Benennung dieser Zustände kann es nun allerdings nicht darum gehen, aufgrund von geschmacklichen Präferenzen natürliche kulturelle Dynamiken zu kritisieren oder sich gar nostalgisch nach der alten Überschaubarkeit zu sehnen: diese ist Geschichte und wird glücklicherweise nicht wiederkommen. Gleichwohl muß angemerkt werden, wie fatal es für die Berliner Musikkultur ist, daß der Musikkonsument, der partout nicht MTV glotzen will und auch nicht das Geld besitzt, sich stapelweise CDs auf Verdacht zu kaufen, ab 1. Mai nicht mehr die Chance hat, sich im Radio umfassend über Popmusik zu informieren, die älter als drei Monate ist. Mit dem Ende des Nachtclubs wird alle nichtaktuelle oder aus den gängigen Radioformaten fallende Rock- und Popmusik noch stärker zum tendenziell exklusiven Territorium werden: wer drin ist, ist drin — wer draußen ist, kommt nicht mehr rein.

QUELLE: zitty 6/1994, S. 34

Weiter hinten (auf Seite 69) wurden Fotos von Graves und Heise samt einem Aufruf zum Hörer-Widerstand abgedruckt.

Ein Leserinnenbrief in zitty 7/1994 (S. 9) ermunterte erneut zum Protest:

Liebe Zitty-Leser/innen, ich nehme an, Ihr lest mit Interesse dieses Szenemagazin, um zu wissen, was in der Stadt kulturell so läuft, doch laßt es womöglich zu, daß die Radiosendung, die uns akustisch durch die Vielfalt der Musikszene geleitet, in aller Stille geschaßt werden soll.
Die Rede ist vom B 2 Nacht-Club im allgemeinen, und „Happysad“, „Roots“, „Body and Soul“, „Experience“, „Dschungelfieber“ und „Rock’n’Roll Radio“ im besonderen, engagiert und kompetent gestaltet von den Moderatoren/Innen Christine Heise, Wolfgang Doebeling, Andreas Vick, Helmut Heimann, Johannes Theurer und Barry Graves. Diese haben uns in Fortführung der SFBeat-Tradition Orientierungshilfen im Dschungel der Neuerscheinungen gegeben, oder exotische Raritäten ausgegraben und dem geneigten Publikum zu Gehör gebracht. Wenn diese musikalischen Wegweiser im ausufernden Kommerzstrom untergehen, so werden wir bald nur noch wissen, wie MC Solar, Rodney Crowell, Jamiroquai und Sovetskoe Foto geschrieben werden, aber nicht mehr, wie sie sich anhören. Um dies zu verhindern, wehrt Euch, rafft Euch auf, und schreibt einen Zwei- oder Mehrzeiler an den Sender Freies Berlin, z. Hd. Herrn Axel Svehla, Masurenallee 8-14 in 14046 Berlin, und/oder nehmt solidarischen Kontakt auf zu: [… oder …]. Kristine […], 13353 Berlin

Letztendlich konnten die Bemühungen der engagierten Hörer beim Sender keine Rücknahme der geplanten Maßnahmen bewirken. Bei einem hatte Svehla allerdings auf Granit gebissen – Wolfgang Doebeling. Er schilderte in seiner letzten Roots-Sendung, was 1994 passierte:

Einmal wurde „Roots“ buchstäblich im letzten Moment gerettet, ich hatte mich bereits damit abgefunden, dass „Roots“ eingestellt wird und überlegte mir am Vorabend der letzten Sendung, wie ich mich verabschieden würde, als spätabends, nach Mitternacht, das Telefon klingelte und Axel Svehla […] offenbar äußerst ungehalten, ins Telefon schrie: „Du machst weiter!“. Und wieder auflegte. Anderntags stellte sich dann heraus, dass […] Jens Wendland vom geplanten Ende von „Roots“ Wind bekommen hatte bei Durchsicht der Tagespresse. […] Das Presse-Echo auf meinen Rausschmiss war nicht gut, also wurde Herr Svehla zu Herrn Wendland zitiert, wo ihm aufgetragen wurde, „Roots“ im Programm zu behalten, unverändert. In einer Stellungnahme las man von kulturellem Kahlschlag, der verhindert werden konnte. Ein kleiner Triumph, für mich ein sehr befriedigender. Allerdings war „Roots“ die einzige Sendung, die verschont blieb. Alle anderen Kollegen […] mussten sich dem Diktat formatfreundlicherer Playlists beugen, etwas, das ich rundweg abgelehnt hatte, weshalb man mich ja vor die Tür setzen wollte.

QUELLE: radioeins, Roots, 27.12.2020

Und Barry Graves? Maximal 6x hat er den „Nachtclub ala Svehla“ moderiert, dabei niedergeschlagen und unmotiviert wirkend die vorgegebenen Hits angekündigt. Weitere Sendungen ließ sein Gesundheitszustand nicht zu. Dass diesem die Maßnahmen der B2-Senderführung nicht förderlich waren, wird niemand abstreiten wollen.

Den Exitus des „Formatierungsspuks“ hat Barry Graves nicht mehr erlebt. Erst in den letzten Tagen von Radio B2 haben sich die Mitarbeiter ihren Sender stückweise zurückerobert. Das Ende war da längst absehbar. Im August 1997 fusionierte man dann mit dem ORB-Sender Radio Brandenburg zu radioeins. Helmut Heimann und Christine Heise moderieren seitdem dort (bis heute) wieder selbstgestaltete wöchentliche Musiksendungen.

Wer nun zum Schluss hofft, von einem großen Happy End samt Bestrafung der Bösewichte lesen zu können, wird (wie so oft im Medienbetrieb) enttäuscht. Eine schnelle Internetrecherche bringt zu Tage, dass Axel Svehla bis zu seinem Ruhestand beim SFB/rbb in Lohn und Brot stand. Dass er sich jemals zu den Ereignissen von 1994 geäußert oder für seine erfolg- und skrupellos wirkende Radioarbeit entschuldigt hätte, ist nach unserer Kenntnis nicht öffentlich geworden.

Die SFB-Strukturen, die u.a. das 1994er-Radio B2-Desaster mit ermöglichten, hallen anscheinend immer noch nach, selbst bis ins Jahr der Schlesinger-Krise 2022. Jens Wendland meldete sich via Tagesspiegel zur Skandal-Affäre sogar aus der Pensionärssphäre mit wohlfeil klingenden Ratschlägen zu Wort und wies entrüstet die Anfrage zurück, aus seinen Ruhegeldzahlungen einen Solidarbeitrag zur Konsolidierung zu leisten. Günther von Lojewski verstarb 2023 im Alter von 87 Jahren. Von besonderen Verdiensten für das Medium Radio haben wir in den zahlreichen Nachrufen nichts konkretes gelesen.

Berlin, April 2024